Verstrickung der Justiz in das NS-System 1933-1945
Diese Ausstellung wurde vom 18. Februar 2013 bis 15. April 2013 im Amtsgericht Gießen (Neubau) gezeigt.
Die Ausstellung ist ein Gemeinschaftsprojekt des Studienzentrums der Finanzverwaltung und Justiz Rotenburg a. d. Fulda in Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium der Justiz, der Philipps-Universität Marburg, dem Fritz-Bauer-Institut und dem Hauptstaatsarchiv Wiesbaden. Die neuesten Forschungen – insbesondere zum Gebiet des Bundeslandes Hessen – werden in dieser Ausstellung thematisiert. Hier geht es eindrücklich um die Verfolgungsstrukturen am regionalen Beispiel und um Fragen zur Moralität des Bösen. Es werden Verfolgtengruppen vorgestellt und der Umgang der Justiz mit ihrer Vergangenheit nach 1945 thematisiert. Über 3.800 Frauen und Männer aus Hessen wurden wegen politischer Delikte vor dem Volksgerichtshof und den politischen Senaten der Oberlandesgerichte Darmstadt und Kassel angeklagt. Die wesentlichen Erweiterungen der Ausstellung „Verstrickung der Justiz in das NS-System 1933 – 1945" betreffen den gesamten Bereich der politischen NS-Strafjustiz (Volksgerichtshof und Oberlandesgerichte, die Wehrmachtsjustiz, die Sondergerichtsbarkeit, den NS-Strafvollzug und die Zwangssterilisationen während der NS-Zeit.
Vor allem thematisiert der neu konzipierte Ausstellungsteil Justizopfer als Opfer des NS-Regimes. Es werden Opfergruppen vorgestellt und ihre die menschenverachtende Behandlung durch – u.a. am Bespiel von Filmaufnahmen vom Volksgerichtshof – aufgezeigt. Auf fünf themenbezogenen Tafeln erfahren die Besucher, welche Verfolgtengruppen zu welchem Zeitpunkt und Intensität in die Mühlen der Justiz gerieten. Exemplarisch werden einzelne Schicksale dokumentiert. Zu sehen sind darüber hinaus auch Übersichten zur Rechtssprechungspraxis und den Organisationsstrukturen innerhalb der politischen NS-Justiz. Optisch wurde die Erweiterung der ursprünglichen Ausstellung um einen Kubus inszeniert, in dem in einer Endlosschleife eine insgesamt über 4 Stunden umfassende Dokumentation von zeitgenössischen Aufnahmen aus Verhandlungen des Volksgerichtshofs zu sehen ist. Zudem werden den Besuchern Einblicke in die Prozesse geboten: Adam Trott zu Solz (am 25. Juli im Zusammenhang mit dem Attentat auf Adolf Hitler verhaftet) und Emil Erich Deibel aus Wetzlar, er wegen eines antifaschistischen, an der Toilettenwand seiner Arbeitsstelle geschriebenen Spruches am 6. Juni 1942 zum Tode verurteilt wurde.
Besonderes Augenmerk wurde auf die Zeit nach 1945 gelegt. Hier findet sich eine ausführliche Würdigung des Frankfurter Auschwitzprozesses sowie der justizpolitischen Entwicklungen im Zusammenhang mit der Aufhebung von NS-Urteilen ab dem Ende der 1990-er Jahre.
Hier können Sie die Ansprache von Prof. em. Dr. Arthur Kreuzer, Ehrenvorsitzender des Criminalium e.V. vom 17.02.2013 anlässlich der Eröffnung der Ausstellung nachlesen:
Herr Staatsminister Hahn, Herr Oberlandesgerichtspräsident Dr. Poseck, sehr geehrte Damen und Herren Abgeordnete, meine Damen und Herren!
Der Verein Criminalium ist Mitveranstalter dieser zeitgeschichtlichen Ausstellung. Auch in seinem Namen darf ich Sie herzlich willkommen heißen.
In der Vereinssatzung heißt es, das Criminalium solle der Öffentlichkeit Wesen, Bedeutung und geschichtliches Werden von Strafrechtskultur nahe bringen. Dazu haben wir u.a. schon mit mehreren Ausstellungen hier im Amtsgericht beigetragen. Sie widmeten sich Themen wie „Dem Täter auf der Spur", „Hinter Gittern" und Entwürfen möglicher Realisation der Vereinsziele in einer erstrebten festen Bleibe im ehemaligen „Festen Haus" der Gießener Vitos-Klinik. Als sich die Chance bot, die Ausstellung zum NS-Justizsystem aus Rotenburg auch für Gießen zu übernehmen, haben wir sie gern aufgegriffen und tatkräftig unterstützt. Vor allem Frau Ulrike Büger sei für die Unterstützung der Organisation und den Herren Peter Gast und Wolfgang Thiele zugleich für ihre Mit-Gestaltung der Ausstellung herzlich gedankt!
Vor 80 Jahren begann die 12 Jahre währende NS-Diktatur mit der Machtergreifung, vor 50 Jahren der erste Frankfurter Auschwitz-Prozess. Das sind mahnende Gedenk-Anlässe. Es gibt immer weniger Zeitzeugen, welche das Unrecht des NS-Justiz-Systems und den Wiederaufbau der Justiz in der Bundesrepublik selbst erlebt haben und davon berichten können. Gerade das demokratische Rechtssystem der Bundesrepublik verlangt es, zu verstehen, was vorausgegangen ist.
Erlauben Sie mir eine persönliche Reminiszenz dazu: Als ich 1958 in Hamburg mit dem Rechtsstudium begann, wurde die Epoche zwischen der Weimarer Zeit und dem Bonner Grundgesetz schlicht ausgespart. Unsere Professoren waren ganz überwiegend zuvor in das Ideengut und System des NS-Regimes eingebunden. Das kann ich ihnen nicht vorwerfen. Sie verweigerten sich uns gegenüber jedoch einer kritischen Auseinandersetzung mit ihrer Vergangenheit. Das habe ich kritisiert. Der Straf- und Völkerrechtler Georg Dahm etwa schrieb noch 1963 in der Neuauflage seiner zuerst 1944 erschienenen Gesamtdarstellung Deutsches Recht", seine Generation müsse zur jüngsten Vergangenheit schweigen, weil sie befangen sei; die nachwachsende Generation könne sich mangels eigener Erfahrung über diese Zeit kein Urteil erlauben; erst fernere Geschichtsschreibung dürfe urteilen. Und wörtlich: „Über den Nationalsozialismus zu sprechen ist es noch nicht an der Zeit...Maßloser Überschätzung ist die maßlose Verwerfung und Herabsetzung gefolgt...Weder die eine noch die andere Betrachtungsweise scheint mir angemessen zu sein." Das führte zu einer Tabuisierung jener Phase unserer Geschichte. Es hat lange gedauert, bis das systematische Abgleiten der Rechtslehre und Rechtspraxis von demokratisch-rechtsstaatlicher Orientierung in das totalitäre Unrechtssystem des Führerstaates zum Gegenstand von Forschung und Lehre geworden ist. Dieses lange Brachliegen solcher Vergangenheitsarbeit ließ Mythen entstehen. Nachkriegsjustiz hat sich des NS-Unrechts spät, zögerlich, nachsichtig und mit beschönigenden Entlastungstheorien angenommen. Dem juristischen Nachwuchs sind authentische Einblicke in die Vergangenheit vorenthalten worden. Erst jetzt wird geklärt, wieweit auch ehemalige NS-Juristen in das Rechtswesen der Bundesrepublik hinein gewirkt haben. Eine „unabhängige wissenschaftliche Kommission beim Bundesministerium der Justiz zur Aufarbeitung der NS-Vergangenheit" erforscht dies derzeit. Wenn das alles erst jetzt geschieht, wen wundert es dann, dass braunes Gedankengut immer wieder unkritisch idealisierend in die Köpfe junger Menschen und nationalistischer Gruppierungen gelangt?
Es ist also höchste Zeit, sich mit der Vergangenheit der NS-Justiz vertraut zu machen. Vor allem junge Menschen, ob in weiterbildenden Schulen oder an der Universität, sollten die Gelegenheit nutzen, sich mit Grundzügen und Alltag des totalitären Regimes in Deutschland zu befassen. Man muss erst einmal nachvollziehen, wie Menschen mit abweichender ethnischer Herkunft oder politischer Meinung ausgegrenzt, verächtlich gemacht, verfolgt, ja ausgemerzt wurden auf scheinbar legaler Grundlage. Erkennen, wie in der Weimarer Demokratie gut ausgebildete Juristen sich allmählich dem Un-Recht des „Führerstaates" beugten oder ihm sogar andienten. Eine Art Normalität – im Sinne Hannah Arendt könnte man von „Banalität des Bösen" sprechen – kennzeichnete dieses Abgleiten ins Unrecht. Wenn man dies erkennt, kann man vielleicht rechtzeitig Symptome wahrnehmen und bekämpfen, die erneut Nationalismus, Fremdenhass, Rassenwahn und Diktatur den Weg ebnen könnten. Aber auch Lehrer in Schulen und Hochschulen und alle in unserer Demokratie Mit-Gestaltenden sollten diese Ausstellung als Informationsquelle nutzen. So wird man besser zu schätzen wissen, wie wertvoll, schützenswert und schutzbedürftig ein rechtsstaatliches System, die europäische Integration, ein rechtsstaatlich intaktes Justizsystem für Gegenwart und Zukunft sind.
Das Criminalium nimmt noch ein weiteres Projekt in Angriff: Wie wurde in unserer Region das NS-Unrecht in der Nachkriegszeit juristisch aufgearbeitet? Zeitzeugen, Betroffene, Angehörige, Freunde, Richter, Staatsanwälte, Anwälte, Sachverständige, Vertreter unterschiedlicher Berufsgruppen, Wissenschaftler werden gesucht, die berichten können über Erfahrungen mit Entnazifizierung, Spruchkammerverfahren, Strafprozessen, Wiedergutmachung, wissenschaftlichem Umgang mit der NS-Zeit nach 1945. Unsere Vorstellungen, Anregungen und Erwartungen dazu werden wir demnächst über die hiesigen Medien in einem Aufruf verbreiten.
Lassen Sie mich schließen mit dem Wunsch, diese Ausstellung, das Einführungsreferat von Herrn Dr. Form und die begleitenden Vortragsveranstaltungen mögen dazu beitragen, Wissenslücken zu füllen, Vergangenes in Erinnerung zu rufen, aufzuklären und das Bewusstsein für die Werte des Rechtsstaats zu schärfen.
Ich danke Ihnen.